WOFÜR UNBEQUEMLICHKEITEN IM LEBEN GUT SIND
In meinem Umfeld gibt es auch Sprachpolizisten und -poli-zistinnen. Sie würden mich ausbessern, sobald ich als per-sönliches Lebensrezept Leidenschaft anführe. „Besser ist Begeisterung“, wäre ihre Empfehlung, „Leidenschaft hat den Beigeschmack, dass sie auch Leiden schafft.“ Ihnen entgegne ich: „Zum Glück! Deshalb ist es für mich das richtige Wort.“ Mit Masochismus hat das nichts zu tun. Gesellschaftlich wird nichts vehementer propagiert als das Glücksideal vom spannungsfreien Leben – und genau an dieses glaube ich nicht! Ich glaube an Balance, an ein Sowohl-als-auch: Wie beim Stress zwischen krank machen-dem Disstress und aktivierendem Eustress unterschieden wird, gehören für mich Probleme, Anstrengungen und die Überwindung von Widerständen unverzichtbar zu einem erfüllten Leben. Es muss nicht immer alles eine „gemähte Wiese“ sein. So erkennt man das Gute nicht prinzipiell daran, dass es „leicht geht“. Im Gegenteil: Erfolg und Entwicklung gewinnen an Wert, wenn sie einen persönlich etwas kosten. Sinn, Glück und Freude rieseln nicht als bedingungsloses Grundeinkommen vom Himmel. Alles, wonach wir streben, will entdeckt, entfaltet, erworben, errungen und manchmal auch hart erkämpft sein.
Es stimmt: Menschen meines Alters, auch ich, haben das Leistungsprinzip jahrzehntelang überstrapaziert, teilweise bis zur Unerbittlichkeit. Das Gegenteil von falsch ist allerdings nicht automatisch richtig – nun scheint das Pendel in die Gegenrichtung auszuschlagen: in einen Vermeidungskult gegenüber Herausforderungen und jeder Art von Unbe-quemlichkeit. Die Tendenz lässt sich in Erziehung, Ausbil-dung und am Arbeitsmarkt beobachten. Wozu sie führt, hat die Corona-Krise eindrucksvoll gezeigt: zu einem Mangel an Resilienz, also an mentaler Widerstandskraft, um auch im Gegenwind des Lebens zu bestehen. Gefragt ist die gute Mitte, die Ausgewogenheit zwischen den Extremen, zwischen Tun und Ruhen. Letzteres verstehe ich als einen gesunden Ausgleich zu Ersterem und keinesfalls als einen Ersatz! Dem Gedanken, eine Firma aufzubauen und sie dann gewinnbringend zu verkaufen, um mich möglichst früh zur Ruhe zu setzen, konnte ich nie etwas abgewinnen. Seit ich theoretisch jederzeit dazu in der Lage bin, noch weniger. Meine Liebe zu den Aufgaben als Unternehmer und all die Herausforderungen, die tagtäglich damit einhergehen, hindern mich daran genauso wie meine Leidenschaft für die Sache. Sport hingegen hilft mir, das Unbequeme tag-täglich zu simulieren und zu trainieren – anders kann und will ich mir mein Leben gar nicht vorstellen.
Take-away: Den inneren Dialog pflegen
Leidenschaft entsteht im Kopf. Und im Herzen. Wenn man Menschen nach ihren Hobbys fragt, ändert sich oft ihre gesamte Physiologie: Ihre Sprache wird lebendiger, ihre Hände gestikulieren, ihre Augen leuchten, das Energie-niveau steigt. Dasselbe Prinzip kann man auf sich selbst anwenden: Ist der innere Dialog positiv und mit motivierenden Bildern verknüpft, kommt die Leidenschaft automatisch. Beispiel Radfahren in der Mittagspause bei drei Grad plus und Nebel: Ich rede mit mir nicht übers Wetter und dass mir am Anfang kalt sein wird – ich motiviere mich damit, dass ich den gesamten Radweg für mich allein haben werde, und mit der heißen Dusche danach. Und diesem Gefühl, dass mein Tag nach einer Tour zu Mittag noch einmal neu anfängt, weil ich mich danach so frisch fühle.
– Gottfried Wurpes-