WARUM ICH ALS EXPERTE IM HERZEN AHNUNGSLOS BLEIBEN WILL
Hand aufs Herz: Nehmen wir uns nicht alle manchmal zu wichtig für das, was wir zu wissen glauben? Was wissen wir wirklich in einer Zeit, in der sich das gesamte Wissen der Welt alle paar Jahre verdoppelt? In der die künstliche Intelligenz Bilder malt, Musik komponiert und Gedichte schreibt? In einer Zeit, in der im Jahr 2025 im Internet die gigantische Datenmenge von 175 Zettabytes gespeichert sein wird? 175 Zettabytes sind 437,5 Milliarden Ausgaben der Bibel mit ihren je viereinhalb Millionen Buchstaben. Für mich ist Wissen Information, über die wir selbst nach-gedacht haben. Und Erfahrung ist, was sich im gelebten Leben an Einsichten angesammelt hat. Lebenserfahrung also oder, noch schöner: ein Erfahrungsschatz. Für ein Kind der 1970er-Jahre, das so bescheiden aufgewachsen ist, bin ich weit gekommen. Weit herumgekommen. Mit vielen Menschen in Kontakt gekommen. Und jedes Mal habe ich etwas mitgenommen. In einem, wirklich nur in einem Bereich würde ich die Titulierung „Experte“ gelten lassen: Fitness, Sport und Gesundheit. Ein weites Feld, fürwahr, über das ich sicher nicht alles, aber doch einiges weiß und in dem ich immer noch ein Lernender bin. Um echte Senio-rität und Expertise zu entwickeln, ist genau diese Haltung entscheidend: sich immer bewusst zu sein, wie relativ das eigene Wissen ist.
Wenn man sich – so wie ich – seit bald vier Jahrzehnten einer bestimmten Materie verschrieben hat, bekommt man Erfahrung. Es gibt Situationen, da wirkt der schnelle Zugriff auf das Kopf-Archiv wie ein Zauberkunststück, und die Verlockung ist groß, sich darob selbst zu überschätzen. Die Freude an guten Einfällen und schnellen Lösungen kann oft trügerisch sein. Deshalb habe ich mir ein Prinzip zurechtgelegt: Immer, wenn ich sehr schnell das Gefühl habe: „Alles klar, kenne ich schon!“, lasse ich mir mit Ent-scheidungen extra länger Zeit. Denke selbst noch einmal nach oder frage jemanden, der weniger Erfahrung hat als ich. Denn eines weiß ich: Als Experte will ich vor allem in meinem Metier im Herzen ahnungslos bleiben und offen für Neues, was ich noch nicht weiß.
Take-away: Den Widerspruch suchen
Mir selbst und allen „alten Hasen“ sei ins Stammbuch geschrieben: Achtung, Erfahrung kann Kreativität und Innovation verhindern! Wird die Summe der Jahre als Maß aller Dinge gesehen, dann wird übersehen, dass Erfahrung etwas ist, was wir schon kennen – also nichts Neues. Das birgt eine Gefahr, die sich in vielen Bereichen beobachten lässt: Die Zukunft als Raffinerieprodukt der Vergangenheit bleibt oft hinter den tatsächlichen Erfordernissen zurück. Wie nützt man also Erfahrungswissen, ohne es als allein gültige Wahrheit zu zementieren? Mit Diversität! Wenn ich an neuen Ideen und Projekten arbeite, suche ich bewusst den Austausch, die Herausforderung und den Widerspruch anderer, vor allem solcher, die keine Experten sind. Ihre Fragen sind oft die besten Antworten.
– Gottfried Wurpes-